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Nationalparkverwaltung: Emma mit Fernweh – die Heringsmöwe
10-9-8-7-6-5-4-3-2 ... der vorletzte Beitrag unseres Countdowns bis zum Beginn der 10. Zugvogeltage widmet sich der sehr adretten Heringsmöwe. Normann Grabow, Dezernent in der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer, beobachtet Vögel von Kindesbeinen an, er berichtet in dieser Folge über die wohl bekanntesten Seevögel, die Möwen.
Möwen sind die Charaktervögel der Nordseeküste schlechthin. Zu jeder Tages-, Tide- und Jahreszeit trifft man sie an. Ihr Anblick ist uns vertraut. Möwen halt. Eine wie die andere. Der Dichter Christian Morgenstern schrieb: „Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hießen.“ Das wusste auch der Helgoländer Autor James Krüss, dessen Buch „Der Leuchtturm auf den Hummerklippen“ mit den Worten beginnt: „Alle Möwen heißen Emma. Das ist allgemein bekannt.“ Und doch begegnen uns unterschiedliche Arten: Mit Lachmöwe, Schwarzkopfmöwe, Sturmmöwe, Silber- und Heringsmöwe sowie Mantelmöwe sind es sechs, die an Niedersachsens Küste regelmäßig brüten. Eine von ihnen werden wir im Winter jedoch fast nicht beobachten können, sie ist nämlich ein ausgesprochener Zugvogel und hat dann das Wattenmeer verlassen: die Heringsmöwe. In Gestalt und Größe gleicht sie der bekannten Silbermöwe, hat aber gelbe Beine und schieferschwarze Flügeldecken, die wie ein Frack wirken. Im Plattdeutschen heißt sie daher auch de lüttje Manteldrager.
Heringsmöwen, die bei uns brüten, haben ihre Winterquartiere in Frankreich, im westlichen Mittelmeerraum und an den westafrikanischen Küsten. Bereits ab Ende Juni machen sich die Vögel dorthin auf den Weg, in kleinen Gruppen, gerne auch einzeln. Dieser Wegzug dauert bis in den November an, so dass Heringsmöwen auch noch während der 10. Zugvogeltage vom 13. bis zum 21. Oktober zu entdecken sein werden. Dabei werden sie von ihren weiter östlich brütenden Artgenossen „übersprungen“: Heringsmöwen aus dem nördlichen und östlichen Skandinavien und dem nordwestlichen Sibirien ziehen über sie hinweg, bis in die tropischen Zonen Afrikas. Sie sind richtige „Fernwanderer“.
Christian Morgenstern wird der Heringsmöwe übrigens nicht begegnet sein, auch nicht während seines mehrmonatigen Aufenthalts auf der Nordseeinsel Föhr im Sommer 1905, der ihn zu seinem bekannten Möwenlied mit inspiriert haben mag. An der deutschen Nordseeküste brütete die Art nämlich das erste Mal 1927, lange Jahre nur auf der unbewohnten und heute im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer gelegenen Insel Memmert. Vermutlich von den Niederlanden und den Britischen Inseln aus erfolgte die Ausbreitung. Die Heringsmöwe profitierte dabei wie andere Möwenarten insbesondere von einem verbesserten Schutz am Brutplatz, das Sammeln von Eiern wurde eingeschränkt. Auch für James Krüss wäre die Beobachtung einer Heringsmöwe im Erscheinungsjahr seines Kinderbuchs 1956 eine Rarität geblieben – bis in die 1970er Jahre blieb der Gesamtbestand in Deutschland unter 100 Paaren. Danach folgte aber ein starker Bestandsanstieg, vermutlich weil es der Heringsmöwe gelang, mit Fischen und Beifang in der offenen See eine üppige Nahrungsquelle zu erschließen, bei der sie weitgehend ohne größere Konkurrenz durch andere Seevögel ist. Dabei kommt ihr zugute, dass sie im Vergleich zu anderen Möwen ein besonders gewandter Flieger ist, der mit schmaleren Flügeln als die ähnliche Silbermöwe schneller größere Strecken zurücklegen kann. Auf ihren Suchflügen bis 100 km aufs Meer hinaus werden Fische aus über zehn Meter Höhe erspäht und dann per Stoßtauchen aus rund drei Metern Höhe erbeutet. Genauso unternimmt sie aber weite Nahrungsflüge tief ins Binnenland, um dort die Äcker nach Regenwürmern und Insekten abzusuchen. Ein wahres Pendlerleben, das sich aber zu lohnen scheint: Der mitteleuropäische Brutbestand beträgt inzwischen rund 100.000 Brutpaare, ein Viertel davon entfällt auf Niedersachsen. Im Wattenmeer ist sie damit heute der häufigste Brutvogel.
Die Bestandsentwicklung der Heringsmöwe ist also eine echte Erfolgsgeschichte, dank ihrer hohen Flexibilität und ihrem breiten Aktionsraum. Anders als andere Möwenarten brütet sie praktisch ausschließlich direkt an der Küste, in Kolonien, vor allem in den Dünentälern auf den Inseln, wo sie vor Beutegreifern wie dem Fuchs meist geschützt ist. Die Heringsmöwe steht daher auch für einen erfolgreichen Gebietsschutz, wie ihn der Nationalpark gewährleistet.
TEXT: NORMANN GRABOW
JNN-FOTO: THORSTEN KRÜGER