„Sie kamen aus dem Feuers, sie gingen durchs Wasser, sie fanden ein Ufer“, so steht es auf einer Gedenktafel an der Friedhofskapelle auf Juist. Die Tafel erinnert daran, dass rund 1250 Vertriebene, vorwiegend aus Pommern und Ostpreußen, am Ende des Zweiten Weltkrieges Zuflucht auf der Insel Juist fanden. Das ist in dieser Woche genau 75 Jahre her, am 10. März - andere Quellen sprechen vom 11. März - wurden zwischen 800 und 1.000 Flüchtlinge aus dem Osten auf die Insel geschickt.
In jedem Fall schrieb Ida Kleen, geborene Scheffler, die ebenfalls dabei war, im Kirchenblatt „Juister Karkenschip“, dass man mit 800 Vertriebenen auf diese Insel kam. Auch die heute in Norden lebende ehemalige Juisterin Ursula Ortgies erinnert sich noch gut: „Am 10 März 1945 kamen etwa 800 Personen nach Juist. Aus Pommern, Ostpreußen und Schlesien hatten sie per Zug Norddeich erreicht und kamen direkt auf das Fährschiff. Wir Kinder ab 12 Jahren hatten die Aufgabe, die Angekommenen mitsamt Gepäck in die Quartiere (Hotels, Pensionen und Privathäuser) zu bringen.“
Joachim Rust, der aus Podejuch als Elfjähriger bei dem Transport dabei war, meinte dazu: „Es war ein ziemliches Durcheinander, ob es 800 oder 1.000 Personen waren, kann man gar nicht genau sagen.“ In jedem Fall waren sie als Flüchtlingskinder erst einmal davon begeistert, dass hier das Wasser weglief, und so hatte man sich erst einmal im Watt tüchtig die Klamotten versaut.
Nur noch wenige der ehemaligen Flüchtlinge gibt es heute noch auf Juist. Eine von ihnen, die ihren Namen hier nicht hier lesen möchte, erinnert sich noch genau an die Ereignisse von vor 75 Jahren: „Per Schreiben wurden wir aufgefordert, ohne Gepäck zum Bahnhof zu kommen. Die meisten hatten Podejuch bereits verlassen, das unversorgte Vieh blöckte in den Ställen und Trecks aus dem Osten zogen vorbei, zudem flogen die Russen Angriffe auf alles, was sich bewegte.“ Sie erinnert sich noch an eine Mutter mit einem etwa zwölfjährigen Jungen, der sich im Zug unter der Bank versteckte. Er wurde gefunden und wurde unter Tränen aus dem Zug rausgeholt, da er noch für den Endsieg mitkämpfen sollte. Nach einer längeren Reise mit vielen Unterbrechungen und Pausen an irgendwelchen Güterbahnhöfen wegen der Tiefflieger kam man schließlich am 10. März morgens um 5 Uhr in Norddeich an. Mehrere Personen aus dem Zug flüchteten dort, denn keiner wusste, wie es weiter geht, und sie hatten Angst, dass man sie einfach ins Meer warf.
„Norddeich war damals noch unbebaut und kahl, wir mussten in Reihen antreten und wurden zu einem Hotel, von dem ich heute weiß, dass es das Fährhuus war, geführt“, so das damals 17jährige Flüchtlingsmädchen weiter. „Das war für uns wie Ostern und Weihnachten auf einem Tag. Weiße Tischdecken, belegtes Brot und Brötchen, dazu Ostfriesentee, den ich seitdem liebe. Wir haben erst einmal gegessen ohne Ende.“
Dann ging es auf die Mole, wo ein großes Schiff für Norderney und ein kleines für Juist lag. Sie und ihre Mutter wurden auf das Juister Schiff geschickt. „Die Nordsee war an dem Tag grün und klar, ich stand die ganze Fahrt an der Reling, für mich war es wunderschön. Auf Juist wurden wir durch einen Gemeindevertreter sehr nett begrüßt. Die meisten kamen ins Hotel „Friesenhof“, ich kam mit meiner Mutter und Frau Knuth, eine Bekannte aus dem Zug, ins Loog.“
Auch der Juister Autor Jochen Büsing spricht aufgrund seiner Recherchen von mehr als 800 Personen. Er ging in seinem Buch „Im Loog“ auf die Ereignisse vor 75 Jahren ein: „Unmittelbar nach Ende des Krieges bekam auch Juist das Elend und die Wucht des großen Flüchtlingsdramas zu spüren. Auf die damals ca. 840 Juister Einwohner kamen weit über 800 Vertriebene und Flüchtlinge, die man der kleinen Insel zuteilte. Diese hausten unter oft erbärmlichen Umständen entweder in den unbewohnten Kinderheimen, in den im Winter leerstehenden und nicht beheizbaren Gästezimmern oder in den ehemaligen Wehrmachtsbaracken. Auch im Ostflügel des Museums und in der großen Theaterhalle (sie gehörte zur früheren „Schule am Meer“, heute Haus „Inselburg“ der Jugendherberge) waren Vertriebene untergebracht.
Ida Kleen: „Es waren keine leichten Anfangszeiten für uns, aber auch nicht für die Juister Bewohner“. Zumal in der folgenden Zeit weitere Vertriebene nachzogen, so dass deren Zahl bis auf 1.250 anstieg. Die Folge dieser katastrophalen Überbevölkerung der Insel war ein ständiger Nahrungsmittel- und Brennstoffmangel. Im Hotel „Friesenhof“ und im „Seeferienheim“ waren Gemeinschaftsküchen eingerichtet worden, und wer selbst kochen wollte, musste Brennholz sammeln.
Der Juister Harmrichard Peters (1928-2000) hatte seinerzeit die Chronik vom im Jahre 1901 eröffneten Hotel „Friesenhof“ handschriftlich niedergelegt. Darin geht er auch auf die Ereignisse vor 75 Jahren ein: „Es kam die Zeit des Wiederaufbaus, doch zunächst mussten hunderte von Flüchtlingen untergebracht werden, die Anfang März 1945 mit einem Transport aus Podejuch bei Stettin auf die Insel Juist kamen. (Anmerkung: Aus dem Stettiner Raum kamen sehr viele Flüchtlinge, allerdings nicht ausschließlich von dort). Alleine 80 Personen wurden im Friesenhof untergebracht. Nach und nach wurden die Menschen dann auf andere Häuser verteilt. Wir konnten zwei Baracken aus der Jaguar-Stellung erwerben, die auf einem von meinen Eltern erworbenen Grundstück an der Dünenstraße aufgestellt wurden. Hier wurden die restlichen Flüchtlinge des Friesenhofes untergebracht.“
„In Erinnerung ist mir ganz besonders die Flucht einer Mutter geblieben, die mit acht Kindern kam“, so Ursula Ortgies. Sie kamen aus Ostpreußen und der älteste Junge war im zwölften Lebensjahr. Die Mutter war hochschwanger und gebar ein paar Wochen nach der Ankunft auf Juist das neunte Kind. Der aus dem Krieg zurückkehrende Vater fand seine Familie auf unserer Insel wieder. So erging es anderen Familien auch, denn es kamen mit den ersten Transporten fast nur Frauen mit ihren Kindern und ältere Personen.“
„Von März bis zur endgültigen Kapitulation vergingen Wochen, wir warteten täglich gespannt auf den Tag der Befreiung“, so Ida Kleen in ihre Erinnerungsniederschrift: „Durch Mundpropaganda erfuhren wir, dass am 8. Mai 1945 die Kapitulation bevorstand. Wir versammelten uns vor dem Hotel „Friesenhof“, dort wurde durchs Radio die Nachricht überbracht, dass der Krieg zu Ende sei. Ein Aufschrei ging durch die Reihen, wir fielen uns in die Arme und freuen uns unbeschreiblich.“
Konnten wir jetzt die Hoffnung hegen, nach Hause zu kommen? Diese Frage von Ida Kleen bewegte damals Millionen von Flüchtlingen in Deutschland. Doch dieser Wunsch erfüllte sich nicht, im Gegenteil. Auch weiterhin wurden Deutsche im Osten vertrieben, zuletzt waren es rund 14 Millionen Menschen, die ihre Heimat für immer verlassen mussten. Alleine 1,848 Millionen Vertriebene in Niedersachsen zählte die erste Volkszählung vom September 1950, was 27,2 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Nur Schleswig-Holstein hatte mit 33 Prozent einen noch höheren Flüchtlingsanteil als unser Bundesland.
„Das Verhältnis zwischen Juistern und Flüchtlingen lässt zunächst zu wünschen übrig, weil es auf beiden Seiten manchmal an Verständnis für die schwierige Lage fehlt“, stellte der frühere Schulleiter und Heimatvereinsvorsitzende Willy Troltenier“ in seinem Buch „Juist – gestern und heute“ fest. Und auch Ursula Ortgies erinnert sich: „Spannungen zwischen Insulanern und Flüchtlingen gab es, als 1946 die ersten Badegäste kamen. Die Juister wollten die Gästezimmer natürlich vermieten, die aber besetzt waren. Da man seine Naturalien – also Lebensmittel – selbst mitbringen musste, waren Schwarzmarktgäste oder solche mit besonderen Beziehungen die ersten Gäste. Erst mit der Währungsreform 1948 kehrte man zur Normalität zurück.“
Besonders schwer wurde es noch mal im Winter 1946/47; durch einen strengen Eiswinter war die Not besonders groß, als Hunger und Kälte das nackte Überleben bedrohten. Ortgies: „Anfang Dezember 1946 mußte ich, unter Tränen, mein vom Vater gebautes Puppenhaus eintauschen für eine silbergraue Wolldecke. Daraus konnte meine Tante für mich einen Wintermantel schneidern.“ Und auch das Flüchtlingsmädchen, deren Namen wir nicht nennen sollte, erinnerte sich an diesen Winter: „Es war Eis an den Wänden, morgens glaubte ich immer, meine Füße brechen vor Kälte ab. Im Sommermantel bin ich ins Dorf, um die neuen Lebensmittelkarten und Lebensmittel zu holen. Meine Mutter war zum Hamstern auf das Festland gefahren. Sie kam nicht zurück, weil das Schiff wegen Eisgang nicht mehr fuhr. Das war uns alles so fremd.“
Schließlich kehrte ihre Mutter zurück und brachte auch ihren Bruder, der aus der englischen Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, mit. „Ein Juister hat uns mit einem langen Strick über das Eis im Watt geführt“, sagte meine Mutter.“ 1950 hatte das Flüchtlingsmädchen dann diesen Juister geheiratet.
Viele Flüchtlinge verlassen Juist auch wieder, weil sie Teile ihrer Familie woanders wiedergefunden hatten oder weil sie einfach nicht auf einer Insel leben konnten. Ursula Ortgies erinnert sich daran, dass um den Jahreswechsel 1947/48 etliche Männer Arbeit in Süddeutschland fanden, hauptsächlich in der Holzindustrie im Schwarzwald. Ihre Familien zogen mit dorthin.
Eine große Zahl verstarb auch – die Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit mit Hunger und Kälte, dazu der Verlust ihrer Heimat war besonders für die Älteren zuviel - und sie fanden auf Juist fern ihrer Heimat ihre letzte Ruhestätte. Andere blieben. Die Kinder gingen hier zur Schule, die Männer fanden Arbeit. Besonders der Juister Bauunternehmer Wilken hatte schnell erkannt, wie fleißig und geschickt die Handwerker aus dem Osten waren, zudem sehr viel arbeitwilliger und weniger trinkfreudig als der Insulaner.
Überall in den Dünen entstanden Gärten zur Selbstversorgung, einige errichten einfach Häuser dort. Die damalige Bezirksregierung verfügte, dass man Flüchtlingen kein zweites Mal eine Heimat nehmen dürfe und die eigentlich illegalen Bauten erhielten Bestandsschutz, bis die Erbauer verstorben waren.
Und auch das Verhältnis zur Bevölkerung wurde besser, es ging sogar eine Reihe von Ehen daraus hervor. Neben Ida Scheffler und Wilhelm Kleen waren dieses – die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollzähligkeit - Arend Janssen-Visser und Ilse Beirow, Marianne de Vries und Erich Hanke oder die heute noch beide auf der Insel lebenden Joachim Rust und Marie Steimer.
In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde auf Juist auf Initiative von Ida Kleen insgesamt viermal der „Tag der Heimat“ gefeiert. Ein Treffen mit traditionellem Essen aus den alten Heimatgebieten, wozu sich damals noch viele Vertriebene, aber auch Insulaner einfanden. „Heimat heißt in erster Linie, Menschen zu finden, die bereit sind zu teilen“, sagte die Organisatorin beim „Tag der Heimat“ im März 1989. Es dürfe nicht vergessen werden, welche Opfer auch die Gastgeber für die Heimatlosen gebracht hätten. Und weiter heißt es: „Unsere Heimat wurde den Polen zugesprochen, nun leben wir schon 50 Jahre auf Juist, haben in dieser Zeit viele Freundschaften geschlossen und eine zweite Heimat gefunden, die wir nie mehr verlassen möchten.“
Ida Kleen verstarb in ihrer zweiten Heimat Juist am 11. Dezember 1995. Und es verstarben zwischenzeitlich noch sehr viele, die am 10. und 11. März 1945 nach Juist kamen. Den „Tag der Heimat“ gibt es schon lange nicht mehr, denn heute gibt es nur noch eine handvoll Menschen auf Juist, die damals nach Juist kamen diesen Teil der Inselgeschichte miterlebt haben.
Quellennachweis:
Juister Kartenschip – Ausgabe April 1995 – Evangelische Kirchengemeinde Juist
Juist – gestern und heute – von Willy Troltenier. – Verlag der Buchhandlung Koch, Juist
Im Loog – Von Jochen Büsing – Burchana Verlag, Borkum (2010)
Kalte Heimat – Von Andreas Kossert – Siedler-Verlag München (2008)
Aufzeichnungen von Ursula Ortgies, Norden (2020) und Harmrichard Peters, Juist (1998)
Unsere Fotos zeigen das Denkmal an der Friedhofskapelle auf dem Gemeindefriedhof mit der Bronzetafel und den alten Grabsteinen der auf Juist verstorbenen Flüchtlinge, die man später zur Erinnerung unter die Gedenktafel gesetzt hatte.
JNN-FOTOS: STEFAN ERDMANN
Ein weiteres Archivfoto zeigt die alte „Frisia VI“ (Baujahr 1927). Für Kriegszwecke wurden damals viele Schiffe der Norden-Frisia eingezogen und anderweitig eingesetzt, zwei gingen vor der französischen Küste sogar verloren. Die kleine „Frisia VI“ verblieb in Norddeich, um insbesondere Juist während des Krieges zu versorgen. Daher dürfte auch sie das Schiff gewesen sein, welches im März 1945 in mehreren Fahrten die Ostflüchtlinge nach Juist gebracht hatte. Das Schiff wurde 1967 in die Niederlande verkauft, es existiert heute noch und fährt als Ausflugsschiff in der niederländischen Provinz Zeeland.
JNN-FOTO: ARCHIV REEDEREI NORDEN-FRISIA