Ein besonderes Jubiläum feiert die Familie Noormann in diesem Jahr, denn seit 120 Jahren besteht ihr Haus „Lo“ auf Juist. Das Haus wurde in zwei Bauabschnitten errichtet, im Jahr 1904 entstand das heutige Hinterhaus, Bauherrin war die aus Frankreich stammende Sophie Neizert.
Vier Jahre später, im Jahr 1908 ließ sie den zweiten Teil des Hauses in Richtung Norden bis an die Carl-Stegmann-Straße, die damals noch Uferstraße hieß, erbauen. Sie selbst betrieb in dem Haus ein sogenanntes Mädchenlizeum, also eine Art kleines Internat, wo bis zu zehn Mädchen die französische Sprache lernen konnten. Sophie Neizert hatte eine Tochter namens Charlotte, und da es auf Juist bereits eine Villa „Charlotte“ und das Haus „Charlottenruh“ gab, nahm sie den Namen, mit dem die Tochter immer gerufen wurde. Nicht Lotta oder Lotte, sondern schlicht und einfach „Lo“. Dieser Hausname blieb trotz mehrfachen Besitzerwechseln bis heute erhalten.
Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verkaufte Sophie Neizert das Haus an Gerhard Lichtenhahn, denn Tochter Lo wollte es nicht, sie selbst behielt aber Wohnrecht auf Lebenszeit. Es folgte der Krieg, in dem im Vorfeld die Weichen für Änderungen im Haus „Lo“ gestellt wurden. In diesen Jahren hatte die Juisterin Luise (Lucie) Eilts (Jahrgang 1920), die jetzt Luise Stolze hieß, ihren ersten Mann Robert Stolze (Jahrgang 1908) verloren, denn dieser nahm sich in Mestre (Veneto)/Italien als Soldat am 15. Januar 1945 das Leben. Zugleich war Gerhard Sund aus Barth (Mecklenburg-Vorpommern) als Spieß (Kompaniefeldwebel) auf Juist, auch er war verheiratet. 1944 verließ Sund die Insel, ging nach Zeven, dann nach Südfrankreich, wo er das Ende des Krieges in Gefangenschaft verbrachte.
Anfang 1948 wurde er entlassen, nun ging alles ganz schnell. Da Sund seine Frau ein Kind während seiner Kriegsgefangenschaft bekommen hatte, kam es zur Scheidung, der gelernte Bootsbauer kehrte nach Juist zurück, wo er immer noch Briefkantakt zu Luise Stolze hatte und die er dann am 10. Mai 1948 heiratete. Im Oktober desselben Jahres zogen sie in das Haus „Lo“ ein, denn Luise pflegte nun die inzwischen hochbetagte Sophie Neizert. Zudem kam am 19. Dezember 1948 die gemeinsame Tochter Karin zur Welt.
Im Jahr 1952 bot sich den Sunds der Kauf des Hauses an, denn Lichtenhahn war aufgrund geistiger Verwirrtheit nicht mehr in der Lage, das Haus zu führen. Doch es scheiterte, denn obwohl Sund ein guter und fleißiger Handwerker war, der auf Juist sein Geld verdiente, scheiterte der Kauf an einem fehlenden Bürgen. Käufer war Dr. Paul Kesten aus Korbach (Nordhessen), der Luise und Gerhard Sund aber als Pächter im Haus behalten wollte. In den kommenden Jahren wurde viel am Haus gemacht, so konnte Gerhard Sund als Fachmann für Holzbau sämtliche Fenster, die damals noch nach oben geschoben wurden, erneuern. Kesten selbst hatte Schränke gekauft, die eine Besonderheit aufwiesen, sie waren nämlich von dem bekannten Juister Künstler Alf Depser bemalt worden. Das Haus selbst wurde als Gästehaus mit Vollpension geführt, zu der Zeit bewirtschaftete man sechs Doppel- und sieben Einzelzimmer.
Ab 1954 befand sich eine Buchhandlung im Haus „Lo“, die vom Buchhandel Bültmann & Gerriets betrieben wurde. Später zog das Geschäft bei Schmidt am Kurplatz ein. Den Buchhandel Bültmann & Gerriets gibt es übrigens heute mit Sitz in Oldenburg immer noch. Im Jahr 1959 – Kesten war inzwischen über 80 Jahre alt und seine Tochter und die Enkelkinder wollten das Haus auf Juist nicht – fand dann der Verkauf an Familie Sund statt.
1966 kam Galt Noormann, Sohn in einer bekannten Norddeicher Fischerfamilie, nach Juist, um erst bei der Firma Fürstenberg Getränke per Ponywagen auszuliefern, später ging der gelernte Eisenwarenhändler zur Firma Reinhard Behrends. Auch Karin Sund war nach einer Ausbildung, der höheren Handelsschule und einem Berufsjahr bei der Sparkasse in Hannover wieder nach Juist zurück gekehrt und fand Gefallen an dem großen blonden Norddeicher Jungen. Dieser wurde inzwischen von immer mehr Juistern gefragt, ob er nicht Fisch besorgen könne. So entstand die Idee, Fisch morgens in Norddeich zu kaufen, trotz der tidenabhängigen Schiffsverbindung war es damals noch möglich, mit längeren Inselaufenthalt zur Insel zu fahren und den Fisch dort zu verkaufen. Hierzu gab es damals sogar noch Monatskarten bei der Reederei.
„Ambulanter Fischhandel“ hieß sein Gewerbe damals steuerrechtlich, im Herbst 1968 kam ein Kühlraum ins Haus „Lo“, denn Galt und Karin hatten in dem Jahr geheiratet. Zudem fragte der damalige Kur- und Gemeindedirektor Emil Visser an, ob Noormann nicht einen Fischwagen am Rathaus betreiben wolle, denn die beiden bisherigen Fischwagen waren Auslaufmodelle. Fischwagenbetreiber Gerhard Heyken hatte inzwischen einen Fuhrbetrieb und Alfred de Vries im Loog die Milchbar „Kiebitzeck“. Von 1969 bis 2011 stand Galt Noormann im Vorabend mit Fischbrötchen und Räucherfisch am Rathaus, und lange Schlangen von Gästen, die vom Strand zurückkamen, waren ihm stets sicher.
1972 entstand ein Raum mit Verkaufstresen im Keller vom Haus „Lo“, der ambulante Lieferdienst wurde eingestellt, 1973 übernahmen Tochter Karin und Schwiegersohn Galt das Haus von Luise und Gerhard Sund, ebenso entstanden die ersten zwei Ferienwohnungen. In den Jahren 1968 bis 1977 wurden zudem die drei Töchter Iris, Uda und Karina geboren. 1984 zog der Fischladen aus dem Keller ins Erdgeschoss, auch wurden nun alle Zimmer zu Ferienwohnungen umgebaut. Mitte der neunziger Jahre wurde das Fischgeschäft an Tochter Uda und Schwiegersohn Kai Schönrock verpachtet.
Ab 2007 begannen die Probleme unter anderem mit dem Schornstein, so dass der Laden geschlossen wurde. Hier entstand der Altersruhesitz von Oma Luise Sund, deren Mann Gerhard bereits 1987 verstorben war. Luise Sund verstarb 2012 im Alter von 92 Jahren. Der wohl schwerste Schicksalsschlag für die Familie kam ein Jahr später, der frühe Tod von Tochter Uda, die am 21. April 2013 im Alter von nur 41 Jahren an einer tückischen Krankheit verstarb. Schwiegersohn Kai betreibt nun einen Fischhandel und Fischimbiss im eigenen Haus nur wenige Meter vom Haus „Lo“ entfernt.
Am 01. Januar 2015 kam die nächste Generation, Tochter Iris übernahm nun das Haus „Lo“. Sie hat derzeit vier Ferienwohnungen und drei weitere Wohnungen sind auf Dauer vermietet. Iris Noormann: „Wegen der vielen Ferienwohnungen fehlt Wohnraum für Dauermieter auf Juist. Daher biete ich auch Dauerwohnraum an.“
Über vier Generationen hinweg brachten sich die Bewohner vom Haus Lo ehrenamtlich im Juister Vereinsleben ein. Oma Luise war in der Theatergruppe, Opa Gerhard aktiv im Segelklub Juist, und Galt war Hegeringleiter, Jäger und in der Feuerwehr aktiv, zeitweise als Gemeindebrandmeister. Mutter Karin war im Kirchenvorstand, bei den Frauenbosslerinnen und sorgte zusammen mit Annegret Coordes für die Wiedergründung der Volkstanz und Trachtengruppe, zudem spielte sie über Jahrzehnte Theater. Auch die drei Töchter Iris, Uda und Karina waren lange Jahre in der Theatergruppe „Antjemöh“ aktiv und glänzten in zahlreichen Rollen, was auch für Galt Heiken, dem Sohn von Iris galt, bevor dieser sich auf Baltrum selbstständig machte.
Zu unseren Fotos:
Das Foto oben auf der Startseite zeigt das Haus „Lo“ um 1920 zusammen mit Gästen, damals noch mit einer schönen Holzveranda zur Südseite hin.
Foto Nummer 2 zeigt die Hauserbauerin Sophie Neizert
Auf dem dritten Bild sind die Geschwister Luise Sund (links) und Johanne Heuer (beide geborene Eilts) beim Haus „Lo“ zu sehen.
Bild Nummer vier zeigt das Haus in den 50er Jahren. Die Holzveranda musste zwischenzeitlich Ziegelsteinen weichen.
Die fünfte Aufnahme zeigt den Grabstein von Luise und Gerhard Sund auf dem Kirchenfriedhof.
Das letzte Foto zeigt (v.l.n.r.) Iris Noormann mit ihren Eltern Galt und Karin.
TEXT: STEFAN ERDMANN
ARCHIVFOTOS (4): PRIVATARCHIV FAMILIE NOORMANN
FOTOS(2): STEFAN ERDMANN