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News: Ist medizinisches „Know how“ auf Juist nur zweitrangig?

Beigetragen von JNN am 08. Apr 2020 - 20:11 Uhr

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Es gab zum Thema Corona schon viele Stellungnahmen, Verfügungen, Briefe und Appelle an die Bürger, die hier in der Redaktion eingingen. Eigentlich ein medizinisches Problem, doch die medizinischen Fachleute auf Juist wurden bisher wenig bis gar nicht dazu befragt. Anfang dieser Woche konnten erstmalig Dr. med. Paul Okot-Opiro und Dr. med. Heike Göttlicher an einer erweiterten Krisenstabsitzung auf Juist teilnehmen. Danach schrieb die Praxis einen Brief an den Bürgermeister und den Gemeinderat, den wir nun zur Veröffentlichung bekamen. Diesen finden Sie unter „Weiterlesen“

Betr.: Lockerung der Zugangsbeschränkung Insel Juist – Brief vom 07. April 2020

Sehr geehrter Herr Dr. Goerges, sehr geehrter Gemeinderat,

von Ihnen und dem Gemeinderat, sowie von einigen Juister Bürgern wurde eine Lockerung der Zugangsbeschränkung z.B. für Handwerker und Bauarbeiter usw. gefordert. Der Landkreis Aurich hat diesem Wunsch nicht widersprochen. Aus medizinischer Sicht stimmt uns diese Entscheidung sehr nachdenklich.

Zunächst hatten wir nicht die geringste Ahnung, dass diese Forderung von der Insel selbst ausging, weil dies so nicht kommuniziert, ja teilweise sogar bestritten wurde. Am 06.04.2020 wurde um 15:00 Uhr eine erweiterte Krisenstabsitzung einberufen. Nebenbei sei erwähnt, dass ich, als seit über 17 Jahre hier tätiger Inselarzt, bisher dazu nicht hinzugezogen wurde, obwohl es sich augenscheinlich beim Thema Corona-Pandemie, um eine medizinische Problematik handelt. Jetzt durfte ich mich aber für eine Teilnahme zur Sitzung anmelden.

Es wurde zunächst viel diskutiert, aber das Wesentliche nicht auf den Punkt gebracht. Erst nach mehrfacher Nachfrage unsererseits, ergriff Herr Doyen-Waldecker das Wort und zitierte aus einem Brief des Bürgermeisters an den Landrat. Wir gehen davon aus, dass auch allen Ratsmitgliedern dieser Brief vorgelegen hat. Jetzt war auch uns klar, die Lockerung der Zugangsbeschränkung war gewollt und bereits entschieden. Es bestand an diesem Nachmittag auch keinerlei Interesse, durch einen evtl. Widerspruch diese Lockerung aufzuheben. Warum auch? Es war wie immer - Stillschweigen von denen, die hinter vorgehaltener Hand sprechen.

Als Mediziner durften wir zwar unsere erheblichen medizinischen Bedenken, die dieses Vorgehen mit sich bringen wird, äußern, es hatte aber letztendlich keinerlei Relevanz. In Zeiten wo medizinisches „Know-how“ auf der ganzen Welt gefragt ist – scheint dies für Juist eher zweitrangig zu sein! Hier setzt man andere Prioritäten: Baustellen aktivieren, Einkaufsfahrten ans Festland forcieren usw.

Wir stehen vor einer großen medizinischen Herausforderung in der uns die Politik – auch die Lokale, sprich Sie und der Gemeinderat, eigentlich unterstützen, statt in den Rücken fallen, sollte. Jetzt müssen wir als Ärzte, in der für uns sowieso schon schwierigen Situation, noch die Folgen, Ihres politisch gewünschten Anliegens mittragen. Verständlicherweise fühlen wir uns hier nicht ernst genommen.

Ich persönlich habe die Sitzung an dem Punkt verlassen, wo zu spüren war, dass hier nicht mit offenen Karten gespielt wird und dem Bürger wichtige Informationen vorenthalten werden. Das ist ein Vertrauensbruch und hat wenig mit Ehrlichkeit, Respekt und Wertschätzung zu tun. Ich bin sehr enttäuscht worden über die Art und Weise, wie Sie und der Gemeinderat sowie einige Interessengruppen, handeln.

Eigentlich hatten wir in dieser Krise auf Zusammenhalt gehofft, um gemeinsam etwas zu bewirken. Stattdessen tritt das Gegenteil ein - eine Spaltung, u.a. auch mitverursacht durch die Vorgehensweise der Verantwortlichen aus dem Rathaus.

Wo bleibt hier die Zivilcourage? Nur einige wenige haben den Mut gehabt und ihre Meinung geäußert. Der Großteil schwimmt mit der Masse und das unterstützt indirekt solch einen Alleingang aus dem Rathaus.

Wenn wir gewusst hätten, dass die Lockerung der Zugangsbeschränkung usw. von Juist aus gefordert wurde, hätten wir uns die Dringlichkeitsschreiben vom 03.04.2020 an den Landkreis (Landrat und Krisenstab), das Gesundheitsamt und die Kassenärztlichen Vereinigung (dieses Schreiben finden die JNN-Leser im Anschluss an diesem Beitrag) gespart. Letztendlich wollten wir Juist medizinisch gesehen „schützen“ und haben einen Versuch gestartet, das „Ruder noch einmal rumzureißen“.

Vielleicht haben Sie noch nicht realisiert, was es bedeutet, wenn sich auf Juist eine Corona-Infektionskette ausbreitet. Schon jetzt ist zu wenig Schutzkleidung für Ärzte, Rettungsdienst und Pflegekräfte vorhanden. Ein Covid-19 infizierter Patient, der in der Praxis behandelt werden muss, führt zur kompletten Schließung der Praxis. Bei nur zwei vorhandenen Arztpraxen führt das schnell zur Aufhebung der kompletten medizinischen Versorgung auf Juist. Inwieweit Juist dann, bei dem jetzt schon überlasteten Gesundheitssystem und Mangel an Ärzten am Festland, was sich durch die Corona-Pandemie nochmals zugespitzt hat, medizinische Hilfe bekommt, sei dahingestellt. Infizierte Menschen müssen schnellstmöglich isoliert werden, aber wie ist dieses Procedere hier zu bewältigen. Es gibt auf Juist keine derartige Einrichtung. Intensiv-Transporte werden dann nur mit hohem medizinisch-technischem Aufwand möglich sein, wenn sie, bei zunehmender Überlastung, überhaupt noch ausreichend für Juist zur Verfügung stehen werden usw. Dies soll kein „Horror-Szenarium“ sein – kann aber schneller, als wir denken, doch zur Realität werden. Fakt ist: Es gibt bis jetzt kein Krisenmanagement für ein derartiges „Coronarium“ auf Juist.

Deshalb fragen wir uns, warum diese vorzeitige Eile, dieses Drängen die Maßnahmen zu lockern. Nicht umsonst wurden gerade für Juist expliziert derart strenge Regeln getroffen, eben weil unsere Insel sehr „verwundbar“ ist. Die Wahrscheinlichkeit der „Eintrittspforte“ für das Virus muss möglichst gering gehalten werden, damit es sich hier nicht ungehindert ausbreiten kann. Das gelingt nur, wenn die bestehenden und strengen Maßnahmen, wie sie bisher getroffen worden sind, eingehalten werden. In Wangerooge ist man uns schon ein Schritt voraus. Dort ist die Lockerung der Maßnahmen nicht eingetreten.
Momentan spricht die Zeit für uns – diese Zeit kann Menschenleben retten.

Wir müssen insbesondere sowohl unsere älteren und schwerkranken Mitbürger, als auch die vielen jüngeren Menschen mit chronischen Erkrankungen z.B. der Atemwege (Asthma bronchiale usw.) schützen. Diese Patientengruppen werden zuerst betroffen sein und vor allem am Schlimmsten.

Wir sind seit über 17 Jahren hier auf der Insel Tag und Nacht für die Einwohner und ihre Gäste medizinisch im Einsatz. Deshalb ist es uns nicht gleichgültig was momentan geschieht. Aus Verantwortlichkeit für die Inselbewohner müssen wir zu diesem Thema Stellung nehmen, auch wenn man uns hier, aus politischen Gründen, lieber außen vorlassen möchte.

Noch steigt sowohl die Zahl der infizierten Covid-19 Fälle, als auch die Sterberate an. Wenn wir Glück haben, fällt die Kurve bald flacher aus und damit steigt die Hoffnung für einen Schritt in Richtung Normalität. Dies ist unser aller Wunsch. Zunächst ist aber Vernunft, Solidarität und Geduld gefragt.

Wir sollten deshalb momentan noch die „Eintrittspforte“ für das Virus so gering wie möglich halten, um eine „Superinfektion“ der Insel zu vermeiden.

Da wir im Krisenstab nicht eingeplant sind, ist unsere Anwesenheit am Montag nur als einmaliger „Besuch“ zu werten.

Wir wünschen Ihnen für die Arbeit im Krisenstab viel Erfolg!

Mit freundlichen Grüßen
Dr. med. P. Okot-Opiro/Dr. med. H. Göttlicher

Und hier der oben gewähnte Brief, der an unseren Landrat ging:

An den Landrat
Herrn Olaf Meinen
Betr.: Aktuelle Zugangsänderung Juist - Brief vom 03. April 2020

Sehr geehrter Herr Meinen,
die aktuelle Änderung der Allgemeinverfügung über den Zugang zur Insel Juist z.B. für Bauarbeiter und Handwerker, zwingt mich als Inselarzt hier zu Wort zu melden.

Nicht ohne Grund hat man diese strenge Zugangsbeschränkung zur Insel Juist damals beschlossen. Sicherlich nicht, um sie nun wieder leichtfertig, evtl. im Interesse Einzelner, zu kippen.

Nur weil wir uns hier auf Juist disziplinieren und ich mich explizit in meiner Praxis und bei der medizinischen Versorgung an die genauen hygienischen Vorgaben meiner Ärztekammer und Kassenärztlichen Vereinigung halte, haben wir das große Glück, noch vor der Corona-Pandemie verschont zu sein. Der Zeitfaktor spielt hier für uns eine wichtige Rolle. Aber warum sollte gerade diese wertvolle Zeit jetzt leichtsinnig, durch irrationale Fehlentscheidungen, für uns auf der Insel aufs Spiel gesetzt werden. Allen sollte bekannt sein, dass die Zeit für uns spricht! Das genau diese Zeit Leben rettet und uns vor einem Kollaps im Gesundheitssystem bewahren kann. Eigentlich eine Strategie die von öffentlicher Seite wie Behörden, Gesundheitsämter, Landkreisen usw. unterstützt werden sollte. Woher deshalb nun plötzlich dieser Sinneswandel?

Die Zahl der Infizierten steigt weiter an und das auch im Landkreis Aurich. Dem Landkreis Aurich ist bewusst, dass es ebenso an Schutzausrüstung für Ärzte, Rettungsdienst und Pflegekräfte fehlt. Wie kann man in dieser Situation dann die Maßnahmen lockern und die „Grenzen öffnen“, obwohl klar ist, dass die Menschen, die dann in erster Linie mit den Infizierten konfrontiert werden, sich nicht ausreichend schützen können. Das ist unverantwortlich. Unverantwortlich auch gegenüber den vielen älteren Menschen, Pflegebedürftigen und chronisch Kranken, die auch hier auf der Insel leben.

Zu bedenken ist ebenfalls, dass diese Bauarbeiter und Handwerker hier in der dörflichen Struktur wohnen und leben werden. Meist sind sie zu mehreren in den Pensionen untergebracht und pflegen engen Kontakt.

Warum sollte die Fortsetzung der Bauarbeiten auf der Insel Juist mehr Bedeutung haben als die Gesundheit und das Wohl der Menschen, die hier leben. Sollten sich hier einzelne Interessengruppen, vor dem Wohl der Allgemeinheit, in den Vordergrund drängen, bitte ich dringend um Aufklärung und Information. Überall werden die Maßnahmen im Land gegen die Corona-Pandemie noch verstärkt und verschärft. Warum beginnt der Landkreis Aurich nun ausgerechnet mit Lockerungen der vorgeschriebenen Maßnahmen auf der Insel Juist? Welchen Interessen wird hier nachgegangen? Eine Kampagne der Desinformation wäre in der jetzigen Situation nicht angebracht.

Ich bitte Sie nun, im Interesse meiner Patienten und zum Wohl der hier lebenden Menschen, Ihre Entscheidung zur aktuellen Änderung der Allgemeinverfügung über den Zugang zur Insel zu überdenken und zurückzunehmen. Momentan gibt es leider noch keine bessere Alternative im Kampf gegen das Corona-Virus als Abstand halten, Kontakte zu reduzieren und zu minimieren. Eine Lockerung des Zugangs nach Juist wäre zum jetzigen Zeitpunkt eher kontraproduktiv.

Sollte Ihre Entscheidung weiterhin bestehen bleiben, liegt die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit hierfür in Ihren Händen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. med. Paul Okot-Opiro
Dr. med. Heike Göttlicher

Auch der zweite Juister Inselarzt, Dr. med. Martin Birkenfeld, hatte am vergangenen Samstag, den 04. April 2020, eine Email an den Bürgermeister und den Rat geschrieben. Auch diese hat JNN erhalten, und der Vollständigkeit halber wollen wir diesen hier ebenfalls zur Kenntnis geben:

Betreff: COVID19 auf Juist – Email vom 04. April 2020

Moin Herr Goerges,
wenn ich die Reaktionen in den sozialen Medien richtig interpretiere wird von den meisten Insulanern gefordert, dass Juist coronafrei bleibt und die Bevölkerung einen bestmöglichen Schutz erfährt.
Dazu meine Vorschläge :

1. der Inselzugang bleibt wie bisher beschränkt, wobei m. E. die größere Gefahr von den Insulanern selbst ausgeht, wenn sie auf das Festland reisen und nicht so sehr von den Bauarbeitern (die melden sich im Zweifelsfall krank). Es ist sogar zu fordern, dass Insulaner die auf dem Festland waren, zunächst freiwillig sich für 2 Wochen in häusliche Quarantäne begeben sollten. Diese Maßnahmen sollten mindestens bis 30.06. 2020 beibehalten werden.

2. die Insel darf künftig nur von Personen betreten werden, die eine durchgemachte Covid19-Infektion mittels Antikörpertest (Tests werden in den nächsten Wochen sicher zur Verfügung stehen) nachweisen können. Aber Achtung einfache Gefälligkeitsatteste dürfen nicht akzeptiert werden, es muss der Originalbefund und eine zusätzliche Erklärung vorgelegt werden!) Diese Personen (Gäste, Zweitwohnungsbesitzer, Bauarbeiter etc.) wären nach jetzigen Kenntnisstand als nicht ansteckend anzusehen. Negative Abstriche oder Schnellteste halte ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht für zuverlässig genug.

3. wenn im Herbst/Winter 2020 oder im Frühjahr 2021 ein zuverlässiger, allgemein verfügbarer Impfstoff vorhanden ist, werden den Insulanern die Impfungen angeboten, so dass voraussichtlich 2 Wochen nach Abschluss der Impfungen Juist wieder für alle Gäste etc. frei bereisbar wäre und die Insulaner keine Infektionen mit den damit verbundenen Gefahren befürchten müssten.

4. im Gegenzug zu dieser zugegebenmaßen sehr restriktiven Abschottung könnten selbstverständlich Kindergarten, Schule, Spielplätze sowie Gaststätten wieder problemlos geöffnet werden, die soziale Distanzierung könnte dann auch logischerweise aufgehoben werden, Treffen von Insulanern wären wieder möglich - immer zu bedenken: solange die Insel tatsächlich coronafrei bleibt.

5. zu Bedenken ist aber auch die wirtschaftliche Situation vieler Gastronomie-, Hotel-, Pension- und weiterer Betriebe (Fahrradverleih etc)

6. zu evtl. Fördermaßnahmen kann ich nichts sagen - ich kann die Lage nur aus ärztlicher Sicht und auch nur ausgehend vom heutigen Tag beurteilen.

Ich sehe diese Vorschläge als Diskussionsgrundlage und erwarte vom Gemeinderat eine Stellungnahme, welcher Weg eingeschlagen werden soll.

In diesem Sinne
Dr. Martin Birkenfeld

 
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