„The Day the music died“ – diese Textzeile aus Don McLean seinem Hit „American Pie“ hat in den Niederlanden eine besondere Bedeutung. So nennt man dort den 31. August 1974, heute vor genau 50 Jahren verloren Millionen von niederländischen Radiohörern ihre Musikstationen. Auch in anderen Ländern und auch bei der damaligen Jugend auf Juist wurden „Radio Veronica“, „Radio Nordsee International“ und „Radio Atlantis“ schmerzlich vermisst, denn im Gegensatz zu den damaligen staatlichen Sendern gab es hier rund um die Uhr Popmusik, aktuelle Schlager, flotte Moderation, Radiojingles und auch Werbung.
Das Besondere an diesen Sendern war, dass sie keine Sendelizenz hatten. Sie nutzten eine Gesetzeslücke, wonach der Sendebetrieb außerhalb der Drei-Meilen-Zone nicht verboten werden konnte, also baute man Sender, Antenne, Stromgeneratoren und Studios auf Schiffe, die dann in internationalen Gewässern vor Anker und auf Sendung gingen. Man spricht zwar von Piratensendern, richtig ist aber Seesender.
Begonnen hatte alles in Skandinavien, wo „Radio Syd“, „Radio Merkur“ und „Radio Nord“ bereits Ende der 50er Jahre sendeten. Doch die Dänen arbeiteten daran, entsprechende Verbote zu schaffen, hieraus entstand später das sogenannte Straßburger Abkommen gegen Seesender. Damit konnte man zwar den eigentlichen Sendebetrieb außerhalb des Staatsgebietes nicht verhindern, wohl aber die Mitarbeit und die Versorgung von Land aus unter Strafe stellen und die Werbekunden belangen.
Bald war Ruhe im hohen Norden, aber 1959 wurden die „Vrije Radio Omroep Nederland“ (VRON) gegründet. Diese kaufte in Emden das Feuerschiff „Borkumriff Reserve“ und ließen es dort zum Radioschiff umbauen. Aufgrund des Drucks der Niederlande wollten die Emder Hafenbehörden das Schiff erst nicht auslaufen lassen, aber nachdem der Firmensitz erst mal nach Liechtenstein verlegt wurde, konnte das Schiff auslaufen. Acht Seemeilen vor Katwijk wurde es verankert und am 21. April 1960 ging „Radio Veronica“ auf Sendung.
Unter der Führung der Hilversumer Brüder Dirk, Hendrik („Bull“) und Jaap Verwey entwickelte sich das neue Unternehmen sehr gut, die Werbekunden standen Schlange. Bereits im November 1964 wurde das ehemalige Feuerschiff ausgetauscht, jetzt diente der ehemalige Cuxhavener Fischtrawler mit dem Namen „Norderney“ mit stärkerem Sender und effektiver Antennenkonstruktion als Operationsbasis. ("Radio Veronica" war tagsüber auch auf Juist super zu hören, denn die Mittelwelle breitet sich über Wasser sehr gut aus) Die Programme kamen teilweise live von Bord, viele wurden aber in Studios in Hilversum vorproduziert und die Tonbänder dann an Bord abgespielt. Auch im Weser-Ems-Raum und besonders an der Küste war „Radio Veronica“ gut zu hören und erfreute sich großer Hörerschaft. Bei „Radio Veronica“ wirkten auch DJs, die später als Musiker sehr bekannt wurden, so der Sänger Jan van Veen (1944 – 2024) oder Pierre Kartner (1935 - 2022), besser bekannt als Vater Abraham. In den Niederlanden zählte man rund drei Millionen Hörer und die Beliebtheit bei der Bevölkerung führte dazu, dass man den Sender bis 1973 nahezu unbehelligt ließ. Den Regierenden war klar, sollten sie Maßnahmen gegen Veronica beschließen, würden sie die Antwort bei den nächsten Wahlen bekommen.
Ab 1963 begann ein wahrer Boom von Seesendern vor Englands Küsten. Von Schiffen oder alten Marineforts wurde gesendet, was das Zeug hielt. Neben vielen kleineren Stationen bei z.B. „Radio City“, „Radio 270“ oder „Radio 390“ und Sendern für bestimmte Regionen wie „Radio Essex“ oder „Radio Scotland“ waren es vor allem die Platzhirsche „Radio London“ und „Radio Caroline“, die ein Millionenpublikum im Vereinigten Königreich aber auch den anderen Nordseeanrainerstaaten hatten. Am 14. August 1967 war Schluss, denn da trat das Straßburger Abkommen in Großbritannien in Kraft.
Das Sendeschiff „Galaxy“ von Radio London wurde bei den Howaldtswerken-Deutsche Werft in Hamburg und später in Kiel aufgelegt, jetzt bildete sich eine deutsche Gruppe, die einen Seesender in der Deutschen Bucht mit dem Namen „Radio Nordsee“ betreiben wollten. Doch irgendwie fehlte es an Geld, zudem machten sie in der Presse schon so einen Rummel, dass man in Bonn hellhörig wurde, und im Juli 1969 ratifizierte auch Deutschland die Straßburger Konvention gegen Piratensender.
Zwei Schweizer waren davon gar nicht begeistert nämlich Erwin Meister und Edwin Bollier, deren Firma Mebo Ltd. bereits die bestellten Sender und Studios für „Radio Nordsee“ fertig hatten. Sie beschlossen, das Projekt selbst zu starten, allerdings von den Niederlanden aus, dem letzten Staat an der Nordsee, wo das noch möglich war. Nachdem sich die „Mebo I“ als zu klein erwies, kauften die Schweizer ein Kümo und bauten es entsprechend um. Die farbenfrohe „Mebo II“ wurde ein Schiff der Superlative, mit zwei UKW-Sendern, zwei weitere für die Kurzwelle und einen Mittelwellensender mit der Leistung von 105 kW. Am 28. Februar 1970 begann „Radio Nordsee International“ (RNI) mit seinen Programmen.
Was von da an bis zum 31. August 1974 alles bei und mit RNI passierte, würde hier den Rahmen sprengen, es füllt Bücher. In jedem Fall war der Sender eine Erfolgsstory, selbst in München gab es einen Hörerclub. Es gab auch deutsche Programme, diese wurden unter anderem von dem Emder Brüdern Peter und Werner Hartwig in ihrem Studio in Larrelt aufgenommen.
Für „Veronica“ wurde die Luft ab Anfang der 70er Jahre dünner. Ein alter Bekannter, nämlich „Radio Caroline“ reaktivierte eines seiner beiden Sendeschiffe und tauchte vor der niederländischen Küste auf. Tagsüber sendete „Radio Atlantis“ von Bord des Caroline-Schiffes in niederländischer Sprache, denn Caroline fehlte Geld und Werbekunden. „Radio Atlantis“ war hingegen sehr erfolgreich, zwar gab es nicht so viel Werbung, dafür wurden aber vorrangig Lieder gespielt, die von der Schallplattenfirma von Atlantis-Betreiber Adrian van Landschoot herausgegeben wurden, was den Verkauf merklich ansteigen ließ. Da das Verhältnis Caroline-Atlantis nicht so gut war, kaufte van Landschoot schon bald ein eigenes Schiff und sendete fortan von dort.
Der belgische Waffelbäcker Sylvain Tack (1934 - 2006), der sich sehr über fehlende Werbemöglichkeiten für seine Backwaren im Rundfunksystem seines Landes ärgerte, übernahm am 1. Januar 1974 die Atlantis-Sendezeit auf dem Caroline-Sendeschiff. Seinen Sender benannte er nach dem Sendeschiff, nämlich „Radio Mi Amigo“. Da man in flämischer also niederländischer Sprache sendete gab es nun vier Sender vor der Küste, die tagsüber Programme für die niederländische und auch belgische Bevölkerung (dort wurde bereits 1962 das Abkommen gegen Seesender unterzeichnet) machten, zudem mussten sich die niederländischen Gerichte mit den Streitigkeiten zwischen RNI und Radio Veronica befassen, so dass nun die Unterzeichnung der Straßburger Konvention in Regierungskreisen angedacht wurde, zumal die öffentlich-rechtlichen Anstalten mangels fehlender Hörerschaft auch entsprechenden Druck machten.
Am 18. April 1973 fand die erste Anhörung in Den Haag statt, an diesem Tag rief „Radio Veronica“ zu einer Demonstration dort auf, wozu man 100.000 Hörer erwartete. Es waren dramatische Tage, bei einem Sturm schlug die „Norderney“ vom Anker und strandete vor Scheveningen. Da man innerhalb niederländischer Gewässer nicht senden durfte, wurde kurzerhand die „Mi Amigo“ als Ersatzschiff gechartert, so dass „Veronica“ von dort weiter sendete und ihre Hörer zur Demo aufrief. Das Ergebnis übertraf alle Erwartungen, am 18. April 1973 gingen rund 350.000 Menschen in Den Haag auf die Straße, um für den Erhalt von „Veronica“ und den anderen Seesendern zu kämpfen, die bis dato größte Demonstration in den Niederlanden.
Doch der zuständige Minister van Doorn und die Regierung ließen sich nicht beeindrucken, man versuchte noch, Veronica und RNI einen Platz im staatlichen Rundfunk zukommen zu lassen, was aber aufgrund eines komplizierten Verfahrens nicht klappte, aber am 31. August 1974 sollte um Mitternacht die Straßburger Konvention gegen Piratensender in Kraft treten. „Radio Atlantis“ verabschiedete sich mit dem niederländischen Dienst schon sechs Tage zuvor und sendete bis zum Ende nur noch in Englisch. RNI beendete an diesem Tag die Sendungen in verschiedenen Sprachen zu unterschiedlichen Zeiten, um 18:00 Uhr wurde der Sender auf der „Norderney“ nach 14 Jahren abgeschaltet. Besonders „Radio Veronica“ gestaltete sein Ende sehr emotional, die letzten Worte, gesprochen von Programmdirektor Rob Out (1939 - 2003) mit dem Ticken einer Uhr im Hintergrund erzeugt noch heute Gänsehautfeeling. Tausende von Fans fanden sich abends im Hafen von Scheveningen ein, um ihre DJ, die in unserem Nachbarland einen Status wie Schlager- oder Filmstars hatte, an Land zu begrüßen.
Am Sonntag, den 01. September 1974, sollte Ruhe im Äther sein. Doch die Rechnung der niederländischen Regierung ging nicht auf. Die Doppelstation „Radio Caroline/Radio Mi Amigo“ war auf Sendung. Das Sendeschiff wurde in die Themsemündung verlegt, als Ausgangsbasis diente später Spanien. Besonders „Radio Mi Amigo“, bei dem später auch einige frühere DJs von „Veronica“ tätig waren, entwickelte sich jetzt zu einer Erfolgsgeschichte mit Millionen von Hörern. Nachdem die „Mi Amigo“ am 20. März 1980 in der Nordsee versank (Werftbesuche waren nicht möglich, weil man das Schiff dann beschlagnahmt hätte), bekam Caroline mit der „Ross Revenge“ ein neues Schiff, zudem mischten die Amerikaner mit ihrem Projekt „Laser Hot Hits“ von Bord des Sendeschiffes „Communicator“ noch sehr erfolgreich mit. Doch es wurde immer schwerer, von See aus zu senden, zumal die Werbekunden jetzt Möglichkeiten an Land hatten. In den 80er Jahren endete die Ära der Sender auf See, heute ist „Radio Veronica“ legaler Sender auf UKW in den Niederlanden. Das alte Sendeschiff „Norderney“ liegt derzeit in Amsterdam als wenig genutztes Eventschiff, zuvor war es ein Café in Antwerpen und davor eine schwimmende Diskothek in Leeuwarden. Übrigens lag sie auch während einer umfangreichen Sanierung und Umbau der Emder Kultdisco „Madison“ vor etlichen Jahren als Ersatz im Emder Ratsdelft. „Radio Caroline“ ist legal in England auf Sendung. Teileweise gibt es Nostalgieprogramme, die nicht aus den Landstudios, sondern von Bord des ehemaligen Sendeschiffes „Ross Revenge“ kommen, das aber sicher im Hafen liegt und für einen autarken Betrieb auf See nicht mehr ausgerüstet ist. Auf der Mittelwelle 648 kHz ist der Sender, der im März sein 60jähriges Bestehen feierte, auch hier zu hören. Es gibt zahlreiche Internet-Projekte mit den Namen Atlantis, Mi Amigo oder Laser Hot Hits, ebenso Oldie Sender wie Radio 192 (die alte Veronica-Frequenz), Radio Extra Gold, Golden Oldie Radio oder Radio 0511, aber das Flair der Programme, die von Schiffen aus gesendet wurden, ging heute vor 50 Jahren verloren.
TEXT: STEFAN ERDMANN
Zu unseren Fotos:
Foto oben auf der Startseite: Heute vor 50 Jahren, am 31. August 1974 verabschiedeten sich DJs und Crew der „Mebo II“ von ihren rund vier Millionen Hörern.
FOTO: THEO DENCKER
Foto 2: Das Sendeschiff „Mebo II“ von Radio Nordsee International. Es sollte später als Radio Nova International vor Italien senden, doch die Pläne wurden nichts. (Später sendete Radio Nova allerdings von einem Berg aus in Italien, denn dort war so etwas möglich) So wurde die „Mebo II“ nach Libyen verkauft, die Sender später ausgebaut und an Land verwendet, das Schiff ging nach Schießübungen durch das libysche Militär verloren.
FOTO: RNI
Foto 3: Wer einen Empfangsbericht an RNI sandte, bekam diese QSL- (= Bestätigungs-)Karte zugesandt.
FOTO: RNI
Foto 4: Peter Hartwig und sein vor zwei Jahren verstorbener Bruder Werner machten unter anderem deutsche Programme für RNI. Sie wurden in Emden-Larrelt im Studio auf Tonbänder aufgenommen und dann an Bord ausgestrahlt, mehrfach waren sie aber auch an Bord, um live zu senden. Das Studio in Emden gibt es nicht mehr, wie Peter Hartwig auf Nachfrage mitteilte. Das Foto wurde 1979 aufgenommen, zu der Zeit wurden deutsche Programme für RNI Radio Nova International in Italien aufgenommen, was von vielen Touristen an der französischen Küste gehört wurde.
FOTO: STEFAN ERDMANN
Foto 5: Noch ein Foto vom 31. August 1974. Mit der „Mebo I“ fuhren die DJs von RNI an Land und wurden von ihren Hörern und Fans verabschiedet. In den Jahren waren die Radiomoderatoren, die DJs hießen, so bekannt wie die Gruppen oder Interpreten, deren Musik sie auflegten.
FOTO: THEO DENCKER
Foto 6: Die „Norderney“, ein ehemaliger deutscher Fischtrawler, vor Scheveningen vor Anker. Von hier sendete „Radio Veronica“. Bevor es ein Sendeschiff wurde, hatte man bereits mit dem Abwracken begonnen, daher fehlt bei diesem Schiff schon das Ruderhaus. Auch wurde die Antriebsmaschine ausgebaut, weil man den Platz für die Stomgeneratoren für den 10 kW-Mittelwellensender benötigte.
FOTO: THEO DENCKER
Foto 7: DJ Jan van Veen im Landstudio von „Radio Veronica“, er wurde später auch als Sänger (auch in deutscher Sprache bekannt). Legendär seine Sendung „Candleligth“, wo er mit romantischer Musik Gedichte von Hörern vortrug. Nach dem Ende des Seesenders wurde diese Sendung von „Hilversum III“ und später anderen Sender ausgestrahlt. Jan van Veen ist am 4. Februar dieses Jahres verstorben.
FOTO: RADIO VERONICA
Foto 8: Die „Norderney“ blieb noch bis 1975 in internationalen Gewässern, dann lag sie längere Zeit ungenutzt in Amsterdam, wurde später Disco unter anderem in Leeuwarden, kurzzeitig auch in Emden, wurde Café in Antwerpen und kam dann wieder in die Niederlande zurück. Übrigens entstand danach in Antwerpen ein Café mit dem Namen „Frisia XV“, das auf der ehemaligen Juist-Fähre angesiedelt war. (Aber das ist eine andere Geschichte, die wir auch nochmal anfassen werden)
Unser Foto entstand im Oktober 2013 in Groningen, als die Norderney grundüberholt wurde und – wenn auch als Attrappen – die alten Antennenmasten zurück erhielt. Leider wird es als Eventschiff heute kaum genutzt und liegt in Amsterdam. Heute allerdings gibt es dort von Bord den ganzen Tag eine Sondersendung, zu hören unter www.192radio.de
FOTO: STEFAN ERDMANN
Foto 9: Das legendäre Sendeschiff „Mi Amigo“, wo die Doppelstation „Radio Caroline“ und „Radio Mi Amigo“ angesiedelt war. Sie trotzten heute vor 50 Jahren der niederländischen Regierung, verlegten das Schiff vor Englands Küste und sendeten munter weiter. Mit seinem 50 kW starken Mittelwellensender war besonders „Radio Mi Amigo“ tagsüber hier auf Juist hervorragend zu hören und hatte auch in ganz Norddeutschland eine große Hörerschaft.
FOTO: Fotograf nicht bekannt/Archiv Stefan Erdmann
Foto 10: JNN-Chefredakteur Stefan Erdmann hatte immer ein großes Interesse an allem, was mit Radio zu tun hat, besonders aber die Piraten- und Seesender. Er verfügt über eine umfangreiche Sammlung von Büchern, Fotos und Schallplatten aus der Zeit der Seesender, ebenso noch über viele Kassetten (die jüngeren Leser müssten mal googeln, was das ist) mit Programm-Mitschnitten. Unser Foto entstand im RNI-Studio in Larrelt, allerdings erst nach dem Ende der großen Seesenderzeit im Jahr 1979.
FOTO: PETER HARTWIG